Eine der wichtigsten Tendenzen in der Geschichte der letzten 400 Jahre ist das kontinuierliche Wachstum der politischen Einheiten. Lag die politische Macht in der frühen Neuzeit noch bei lokalen Herrschern, folgte darauf der Aufbau übergreifender Bürokratien. In den Gebieten in dem der Aufbau der Bürokratie Kleinstaaterei hinterlassen hatte, wirkte schließlich der Nationalismus als integrierende Idee. Der führte jedoch zu einem nationalen Chauvinismus, der in entsetzlichen Kriegen mündete. In der Hoffnung den nationalen Chauvinismus zu überwinden werden heute in Europa und anderswo in der Welt supernationale Strukturen aufgebaut. Die politische Klasse scheint entschlossen zu sein die EU zu einem Bundesstaat auszubauen. Angesichts dieses geschlechtlichen Hintergrunds stellt sich die Frage, ob die europäische Einigung zu einem supernationalen Chauvinismus führen wird.
Daher will ich einige Überlegungen über die Fusion von politischen Einheiten und den Ursachen des Chauvinismus anstellen. Die Fusion von politischen Einheiten ist ein Phänomen das überall auftritt wo es kooperierende politische Einheiten gibt und findet auch auf untergeordneten Ebenen statt (siehe etwa Gemeindereformen oder das Zusammenlegen von Bundesländern). So verschmolzen schon im alten Ägypten Priesterschaften indem sie vorgaben bei den jeweiligen Gottheiten handle es sich um das gleiche Wesen. Man kann also annehmen, dass Fusionen tendenziell im Interesse der Entscheidungsträger liegt.
Betrachtet man die Situation eines Politikers werden sich zwei Motive gegenüberstehen: Zum einen die Sorge die eigene Position könnte marginalisiert werden zum anderen die Hoffnung auf größere Gestaltungsmöglichkeiten. Der erste Punkt ist selbst erklärende, durch die Fusionen verringert sich die Anzahl an Personen mit Richtlinienkompetenz und wächst die Konkurrenz diese zu beeinflussen. Das Risiko die eigene Agenda nichtmehr durchbringen zu können verringert sich deutlich, wenn man eine Fusion mit Einheiten anstrebt, die von Menschen mit ähnlichen Interessen beherrscht werden. Die EU ist nur deswegen möglich weil die politischen und Intelektuellen Eliten in Europa ähnliche Vorstellungen verfolgen.
Größere Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich bei Fusionen auf zwei Arten: Zum einen wächst für die Spitze die Anzahl an Ressourcen in Form von Mitarbeitern, Einnahmen, Untertanen usw. zum anderen verbessert sich das strategische Gewicht gegenüber anderen. Gegenüber den Untertanen, den Untertanen größerer politischer Einheiten haben weniger Möglichkeiten dem Wirken der Politik auszuweichen. Es wird Menschen geben, die der Beleuchtungsmittelfreiheit wegen in eine andere Stadt ziehen würden; die Nation oder gar die EU zu verlassen, um ein Glühbirnenverbot zu entgehen, werden hingegen die wenigsten auf sich nehmen. Auch gegenüber anderen politischen Einheiten verbessert sich die Position durch schiere Größe. Werden sich ein großer und ein kleiner Partner handelseinig gewinnt der kleinere relativ gesehen mehr. Handeln etwa die EU und die Schweiz Visaerleichterungen aus, ist eine Einigung für die EU weniger bedeutsam als für die Schweiz und sie wird daher zu größeren Zugeständnissen bereit sein (beispielsweise wird sie versuchen „gute Beziehungen“ zu erhalten, indem sie das Bankgeheimnis lockert). Daraus folgt auch, dass der Druck sich zu größeren Politischen Einheiten zusammenzuschließen wächst, wenn andere Einheiten im Fusionsprozess bereits weiter fortgeschritten sind. So gibt es in der Schweiz Überlegungen, ob man die eigenen Interessen nicht innerhalb der EU besser verfolgen könne. Fusionsprozesse werden also zum Selbstläufer, wenn sie weit genug fortgeschritten sind und können dazu führen dass andere Regionen nachziehen und eigenständige Bündnisse bilden.
Ein häufig vorgebrachter Grund für Fusionen, die Möglichkeit Kosten einzusparen, kann verworfen werden. Wäre es realistische durch die Fusion von Verwaltungen Kosten einzusparen würden diese häufiger am Widerstand der Verwaltung scheitern. Tatsächlich findet man in einschlägiger Literatur die Aussage, dass bei Fusionen im öffentlichen Sektor Einsparungserwartungen in der Regel nicht erfüllt werden konnten.
Es dürften folgende Gründe dafür sorgen, dass Nationalismus oder eine vergleichbare Integrationsidee in Chauvinismus umschlägt: 1. Die Erfahrung begrenzter politischer Spielräume führt innerhalb der politischen Führung zu der Meinung, dass sollte ein Staat nicht aggressiv die Interessen seiner Politiker vertritt, die Politiker anderer Staaten die Politik dieses Staates bestimmen. 2. Im Rahmen von Divide et impera schüren Politik und Medien gezielt Feindbilder. 3. Die Integrationsidee wird zu einem verstärkten Dogma, das nicht mehr in Zweifel gezogen werden darf ohne sich ins gesellschaftlichte Abseits zu stellen. Dieses Dogma macht es unmöglich dem Chauvinismus argumentativ zu begegnen.
Der erste Punkt wurde häufig herangezogen, um Chauvinismus in verspäteten Nationalstaaten zu erklären. Also Staaten, wie Deutschland und Italien, die erst aus Kleinstaaten zusammengefügt wurden, als andere Staaten schon lange als Nationalstaaten verfasst waren. Die EU würde man auf dem ersten Blick nicht in dieser Situation sehen, sie ist der Vorreiter der supernationalen Fusionen. Dennoch müssen sich die Politiker der europäischen Staaten teilweise an Vorgaben aus den USA halten, insbesondere was die Außenpolitik betrifft. (Die USA ist vor allem gemessen an ihrer wirtschaftlichen Kraft selbst von der Größe eines supernationalen Verbandes.) Diese Einschränkungen haben zu einem Antiamerikanismus geführt, aus dem die Forderung nach einer eigenständigen EU Außen- und Sicherheitspolitik hervorgeht.
Auch wenn die Entwicklung in Europa nur eingeschränkt dem Schema eines verspäteten Nationalstaats entspricht sollte man es im Hinterkopf behalten, da es auf noch kommende supernationale Verbände zutreffen könnte.
Den zweite Punkt auf unsere aufgeklärte Gesellschaft anzuwenden wirkt zunächst widersinnig, steht divide et impera doch im Konflikt zum Selbstverständnis der politischen und intellektuellen Eliten, aber der Maskulismus hat mich gelehrt, dass einem auch massivste Vorurteile kaum auffallen, wenn man sie gewohnt ist und keinen Kontakt zu anderslautenden Meinungen hat. So muss man sich fragen, ob die zahlreichen Intervention im Namen von Demokratie und Menschenrechten nicht bereits Ausdruck eines aggressiven Extremismus. Damit mich keiner falsch versteht, der liberale Rechtsstaat ist allen anderen Staatsformen überlegen. Was ich jedoch in Frage stelle ist, das die Interventionen geeignet sind oder auch nur bezwecken ihn herzustellen.
Der dritte Punkt beschreibt zweifellos einen Umstand den in Ansetzen bereits besteht. Wer in Deutschland die EU in Frage stellt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er die Zeiten des Nationalismus zurückwünscht. Auch die allergische Reaktion der Eurokraten auf das irische Nein zum Lissabon-Vertrag lässt tief blicken. Keine der Etablierten Parteien positioniert sich gegen eine Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat. SPD, Grüne, die Linke und FDP fordern in ihren Wahlprogrammen, der EU mehr Staatlichkeit zu verleihen, die CDU macht zur finalen Integrationstiefe keine Aussage.
Auch wenn es verfrüht wäre von einem europäischen Chauvinismus zu sprechen, sind erste Ansätze in der Richtung bereits erkennbar. Letztlich spielt es vielleicht keine so große Rolle wie sich eine zukünftige EU-Regierung in der Außenpolitik positioniert. In einer Welt die im Wesentlichen aus supernationalen Verbänden besteht, ist ein bewaffneter Konflikt extrem unwahrscheinlich, die eigentliche Gefahr geht von der Leichtigkeit aus mit der in solchen Verbänden die Untertanen unterdrückt und von der Außenwelt abgeschirmt werden können. Ein scheinbar nach außen gerichteter Chauvinismus kann dafür als Rechtfertigung dienen.
Crosspost auf Die Freie Welt
Edit: Wie mir seit gestern bekannt ist, hat sich schon Roland Vaubel in „Europa-Chauvinismus: Der Hochmut der Institutionen“ mit dem Zentralisierungsprozess in der EU auseinandergesetzt (Dank an DDH). Das Buch ist online verfügbar und sei zur Vertiefung empfohlen.
September 11, 2009 um 3:45 pm
Der europäische Supra-Nationalismus ist der Super-Nationalismus des 21. Jahrhunderts!
September 11, 2009 um 4:23 pm
http://dominikhennig.blogspot.com/2009/09/lekture-empfehlungen-des-tages.html
September 14, 2009 um 3:07 pm
Sehr interessant! Ein grosses Kompliment zu dieser Ausformulierung und zum (für mich) neuen Analogschluss zwischen dem staatenbildenden Nationalismus und einer Möglichkeit gleicher Entwicklung auf europäischer Ebene.
Ich als überzeugter und stolzer Europäer sehe diesem „EU-Chauvinismus“ gelassen entgegen, bin jedoch nicht blind genug um nicht sehen zu können, dass es zweifellos Probleme geben kann.
Bei der Vereinigung von kleineren Strukturen zu grösseren Entitäten müssen die Massen immer emotional an die Idee gebunden werden, da sie nur eingeschränkt den abstrakten Ideen der Eliten zugänglich sind. Dies geschieht (wie du bereits angetönt hast) fast immer über Feindbilder, Propaganda und gezielt geschürte Ängste.
Vorausgesetzt, dass die Einigung Europas sich überhaupt durchsetzen wird.
Gruss,
Manifold
September 14, 2009 um 3:20 pm
„So gibt es in der Schweiz Überlegungen, ob man die eigenen Interessen nicht innerhalb der EU besser verfolgen könne.“
Ich habe dazu im Blogeintrag „Die geopolitische Lage der Schweiz – Alpenfestung, Steuerstreit und fremde Vögte?“ meine Sicht der Dinge dargelegt:
http://sonsofperseus.blogspot.com/2009/08/die-geopolitische-lage-der-schweiz.html
Warum eine grössere Beteiligung der Schweiz an der europäischen Politik sinnvoll sein kann und weshalb gewisse Probleme der letzten Zeit dadurch besser gelöst hätten werden können.
Gruss,
Manifold
September 14, 2009 um 11:42 pm
@Manifold: Deinen Schweizbeitrag hatte ich im Hinterkopf als ich den zitierten Satz schrieb.
Vielleicht hast du als Schweizer weniger Sorgen, was große politische Strukturen angeht, weil in der Schweiz Subsidarität noch funktioniert. In der EU wurde die von Anfang mit Füßen getreten. Achte in Zukunft auch stärker auf Freiheitseinschränkungen wie das Glühbirnenverbot. Auch Gendermainstreaming wurde über EU-Institutionen installiert. Bedenke das das nur der Anfang ist.