Mit der Nötigung zum Rücktritt des Thüringer Ministerpräsidenten Kemmerich, tritt die Krise der Parteiendemokratie in eine neue Phase. Nachdem sich die politischen Eliten soweit von der Wirklichkeit und der Lebenswelt der breiten Bevölkerungen entfernt haben, dass es zu latenten Spannungen gekommen ist, treten diese nun offen zu Tage. Prinzipiell wären drei Wege möglich, durch die sich die Krise löst: Die Eliten ordnen sich wieder dem Realitätsprinzip unter, sie werden durch neue ausgetauscht oder sie beginnen ihre Macht mit diktatorischen Mitteln zu sichern. Durch die Ereignisse der vergangen Tage ist deutlich geworden, dass die politischen Spitzen willens sind sich über demokratische Prozesse hinwegzusetzen. Verschärfend kommt hinzu dass mit der FDP nun einer politisch Kraft weggefallen ist, die noch am ehesten am Realitätsprinzip orientiert war. In diesem Artikel will ich darlegen welche Faktoren zu der oben skizzierten Entwicklung geführt haben, das diese Entwicklung kein der Demokratie zu eigenes Schicksal ist, sondern das die Demokratie reformierbar ist und will einen Weg aufzeigen durch den diese Reformen verwirklicht werden können.
Die Krise der Parteiendemokratie äußert sich darin, dass die Parteien nicht mehr in der Lage sind, für die bestehenden Probleme Lösungen zu finden und stattdessen eine Politik betreiben die weitere Probleme nach sich ziehen werden. Die Ursache ist die fehlende Bereitschaft sich mit den Kausalitäten ihrer Wirkungsfelder auseinanderzusetzten, also eine intellektuelle Verflachung, die die sachliche Auseinandersetzung durch eine ideologischen Scholastik ersetzt. Den Politiker interessiert es nicht welche Wirkungen, die von ihm beschlossenen Maßnahmen haben, ihn interessiert wie er sich durch die Befürwortung oder Ablehnung im politischen Spektrum positioniert. Daher ist es unvermeidbar, das der Großteil der durch die Politik beschlossenen Maßnahmen die Probleme, die sie vorgeben zu lösen, gar nicht lösen und in der Regel unerwünschte Konsequenzen nach sich ziehen.
Natürlich ist den Politikern kein böser Wille zu unterstellen; es ist davon auszugehen, dass auch Politiker stehst bemüht sind den Anforderungen ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Diese Bemühungen werden durch das Umfeld in dem sich der Politiker bewegt zunichte gemacht. Das entscheidende Merkmal der Parteiendemokratie ist, dass um als Politiker überhaupt in verantwortliche Positionen zu kommen, sich in ein Netzwerk anderer Politiker einbinden müssen, dessen Unterstützung sie erhalten. Dieses Netzwerk ermöglicht den Zugang zu Parlamentssitzen, Regierungsposten und anderen Einflussmöglichkeiten. Ohne Netzwerk ist der Politiker nichts, er ist von ihm absolut abhängig, im Fall von Berufspolitikern auch in seiner bürgerlichen Existenz.
Ein Politiker wird nichts unternehmen was ihn von sein Netzwerk entfremden würde. Insbesondere wird er keine Position beziehen, die von seinen Unterstützern und Gönnern abweicht. Es wird jede Kritik unterlassen und damit auch jeden Versuch seine eigene Position auszudifferenzieren. Da sich sein gesamtes Netzwerk so verhält wird sich das ganze Netzwerk auf den kleinsten intellektuellen Nenner reduzieren. Jede Position wird lediglich aus einem Katalog vorgefertigter Rezepte entnommen. So ist beispielsweise zu erklären warum Kevin Kühnert Konzepte vorschlägt, die bereits vor 30 Jahren spektakulär gescheitert sind. Wenn eine Weiterentwicklung stattfinden, dann oft in die Richtung weiterer Verflachung oder Radikalisierung.
Wie wir gesehen haben ist die Ursache für den Verlust des Realitätsprinzips die Abhängigkeit des Politikers von einem festen Personenkreis. Um eine realitätsbezogene, evidenzbasierte Politik zu ermöglichen muss es für einen Politiker möglich sein verantwortliche Positionen zu gewinnen, ohne sich in derartige Abhängigkeiten zu begeben. Die nahliegende Methode um die zu erreichen ist es, die Parlamente durch Losentscheid zu besetzten. Der Gedanke mag zunächst befremdlich erscheinen, hat bei näherer Betrachtung eine Reihe von Vorteilen.
Politiker sind in der Tat frei und nur ihrem Gewissen unterworfen, sie können für ihre Position mit Authentizität und Integrität einstehen. Anstatt sich in dem Kampf um Listenplätze aufzureiben, werden für die eigentliche Sachliche Arbeit Ressourcen frei. Das Parlament spiegelt die Zusammensetzung der Bevölkerung bezüglich sozialer-herkunft und psychologischer Verfasstheit besser wieder. Zu den wichtigsten Fragen werden es im Parlament direkt betroffene vertreten sein. Ein echtes Zweikammersystem in dem eine Kammer die andere kontrolliert wird möglich. In der Parteiendemokratie wird die gegenseitige Kontrolle durch die gemeinsame Abhängigkeit von den Parteien unterlaufen.
Der wichtigste Einwand gegen die Losdemokratie ist die Befürchtung, dass Abgeordnete ins Parlament berufen werden, die nicht die Eignung zur parlamentarischen Arbeit haben. Dieser Gefahr muss begegnet werden in dem es Prozesse gibt, durch die inaktive oder krass auffällige Parlamentarier ihre Sitze verlieren können. Auch ist es sinnvoll die Parlamentssitze nicht automatisch aus der Gesamtbevölkerung zu berufen, sondern nur denjenigen, die sich aus eigener Initiative melden, in das Losverfahren einzubeziehen.
Der zweite wichtige Einwand ist demokratietheoretischer Natur: Ist durch die Losdemokratie die Volkssouveränität gewährleistet? Diesem Einwand möchte ich mit dem Verweis darauf begegnen, dass der Begriff Volkssouveränität nicht operationalisierbar ist. Das Volk ist eine Fiktion, Handelnde sind immer die Einzelnen. Legitimität leitet sich aus der Volkssouveränität ab, sondern durch die Möglichkeit eine Funktionierende Gesellschaft zu erhalten.
Nach der kurzen Skizzierung der Losdemokratie als Alternative zur Parteiendemokratie, stellt sich die Frage wie die Losdemokratie politisch durchgesetzt werden kann. Ein gewaltsamer Umsturz scheidet aus moralischen und pragmatischen Gründen aus. Die Losdemokratie muss also im bestehenden Politischen System umgesetzt werden. D.h. müssen auf parlamentarischen Weg entsprechende Verfassungsänderungen angestrebt werden. Die Änderungen können entweder den entsprechenden Parlamenten mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen werden oder was der einfachere Weg wäre, können durch die Parlamente Verfassungsreferenden legitimiert werden (z.B. Art. 146 GG).
Scheinbar paradoxerweise braucht es also ein Engagement in den Parteien, um die Parteien zu entmachten. Das Paradox kann dadurch aufgelöst werden, dass Parteien die losdemokratischen Reformen anstreben sich selbst losdemokratisch konstituieren. D.h. eine losdemokratische Partei, muss wenn sie ein solche sein will, ihre Wahlvorschläge und Delegierten durch losdemokratische Verfahren bestimmen. Wenn die hier entwickelten Ideen halbwegs zutreffend sind, ist das nicht zum Nachteil der Partei, die gleichen Vorteile die die gesamte Gesellschaft aus der Losdemokratie bezieht, würden auch einer Losdemokratischen Partei zu teil. Diese Vorgehen hat den Charme das losdemokratische Reformen mitnichten Experimente am Staat wären. Losdemokratische Verfahren können sich zunächst innerparteilich bewähren, wo sie durch inkrementelle Verbesserungen (den Begriff hört man viel zu selten im Zusammenhang mit der Politik) die passende Ausgestaltung erfahren.
Gerade in den kommenden Monaten würde eine Partei stark davon profitieren losdemokratische Ideen zu übernehmen. Die FDP hinterlässt eine Lücke, die bald von neuen Parteien ausgefüllt werden wird. Losdemokratie könnte für eine Partei der Unique Selling Point sein durch den gegenüber potenziellen Mitgliedern und Wählern glaubhaft argumentiert werden kann, dass sie nicht aus den gleichen Gründen scheitern wird wie FDP, Piratenpartei und andere Kleinstparteien.
„Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, die, welche neue Werte auf neue Tafeln schreiben.“ — Friedrich Nietzsche