Archive for the ‘Der Einzelne’ Category

Jenseits der Schuld

November 22, 2013

Schuld ist ein erstaunlich unnötiges Konzept. Zwar scheint die Unterteilung in richtiges und falsches Verhalten, den meisten Menschen die notwendige Orientierung zu geben. Aber näher betrachtet schadet das Konzept mehr als es nutzt. Die Idee der Schuld ist, dass es allgemeine, vorgegebene Normen gibt, die einen vor Verletzungen und Verlusten aller Art schützen. Gleichzeitig haben diejenigen die an die Schuld glauben Angst davor, diese Normen zu verletzen. Das Problem an diese Denkweise ist sie die Kreativität erstickt, zur Unmündigkeit erzieht und es erschwert Kompromisse zu finden.

Im Zusammenleben von Menschen gibt es weniger allgemeinen Normen als man vielleicht annehmen würde. Zwar sind die Normen im Umgang mit Fremden sehr allgemein und unveränderlich, aber auch diese variieren von Region zu Region und von Kontext zu Kontext. Wenn man dann den Sprung über das Fremdsein hinaus wagt kann es keine allgemeinen Normen geben, Weil die Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen auf die gleichen Dinge sehr unterschiedlich reagieren. Was für den einen ein notwendiges Zeichen von Nähe ist, ist für den anderen schon eine Grenzverletzung. Im Umgang mit anderen sind Frustrationen daher unvermeidlich. Wir kennen die Bedürfnisse unsers Gegenübers nicht und müssen uns erst daran herantasten. Bei diesem Prozess finden wir uns in unsere Rollen hinein. Diese Rollen definieren wie wir mit welchen Menschen auf welche Weise umgehen. Wir fühlen uns in unseren Rollen wohl, weil wir wissen, dass andere unser Verhalten in dieser Rolle akzeptieren. Wenn jemand aus seiner Rolle ausbricht setzt sein Umfeld dem meistens Widerstand entgegen, weil es vom dem ungewohnten Verhalten irritiert wird. Wie wir unsere Rollen definieren liegt allein in unserer Verantwortung. Auf dem Weg dahin wird es Irritationen und Verletzungen geben, aber der Weg kann uns nicht von anderem abgenommen werden. Wenn wir versuchen uns lediglich im Rahmen allgemeiner Normen zu bewegen bleiben entweder unsere Beziehungen auf einem sehr niedrigen Level oder wir müssen uns auf den Mut anderer verlassen zu dem Preis, dass wir sehr passive Rollen einnehmen.

Das Denken in der Kategorie Schuld ist auch der Versuch die Verantwortung von sich abzuwälzen. In unserer Kindheit waren diejenigen, die uns schaden wollten, die Bösen und Papi hat uns vor ihnen beschützt. Anstatt unsere Probleme selbst zu lösen, mussten wir diese Aufgabe an andere delegieren. Auch im Erwachsenenalter finden wir an der Idee gefallen, dass ein Held das Böse bestraft und die Guten beschützt. Diese Idee ist immerhin das Grundgerüst von zahlreichen Filmen und anderer Unterhaltung. Es ist attraktiv andere als schuldig zu darzustellen, wenn uns ihr Verhalten nicht passt, weil wir dann erwarten, dass unsere Probleme dann von anderen gelöst werden. Wenn andere diese Sichtweise übernehmen, kann das sogar stimmen. Der Versuch auf diese Weise unser Zusammenleben zu organisieren führt jedoch dazu ein Korsett von Regeln aufzubauen, dass in den meisten Situationen nicht angebracht ist und unter dem manche Bedürfnisse nicht ausgelebt werden können. Eine erwachsene Umgangsweise mit Verhalten das uns stört, ist zu kommunizieren was uns stört und entsprechende Konsequenzen zu ziehen, wenn  das Verhalten beibehalten wird. Der Unterschied zwischen diesem Verfahren und dem sanktionieren durch Schuld besteht in zwei Punkten: Erstens müssen wir die Verantwortung übernehmen und selbst die Konsequenzen ziehen. Zweitens nehmen wir das störende Verhalten nicht persönlich. Wenn jemand bereit ist die Konsequenz zu ertragen, kann er sich ruhig weiter störend verhalten.

Wenn wir uns an Schuldfragen orientieren geht viel Energie für wichtigere Dinge verloren. Wenn wir Fehler gemacht haben und damit konfrontiert werden, ist unsere erste Reaktion uns vor Vorwürfen zu schützen. Die Reaktion kann darin bestehen unsere Verantwortung für den Fehler kleinzureden oder die Bedeutung des Fehlers zu relativieren. Meistens werden durch diese Handlungen andere mit echtem oder angeblichem Fehlverhalten konfrontiert, die ihrerseits Abwehrreaktionen zeigen. Anstatt sich damit zu beschäftigen wie der Fehler behoben und zukünftig vermieden werden kann, ist bereits viel Kreativität dafür verausgabt worden, sich Ausreden auszudenken. Um nicht in diese unproduktiven Verhaltensmuster zu fallen ist es hilfreich zu akzeptieren, dass es normal ist Fehler zu machen und das wir deswegen keine Schuldgefühle haben brauchen. Nichts kann so befreiend sein wie einmal zu sagen: „Du hast Recht, tut mir Leid, es wird nicht wieder vorkommen“, wenn es wirklich ernstgemeint ist und glaubhaft kommuniziert werden kann. Auch kann es sehr frustrierend sein, wenn wir mit jemand eine konstruktive Lösung suchen und die betroffene Person Verhalten verteidigt, das wir gar nicht als Fehlverhalten wahrgenommen haben. In allen diesen Fällen stehen Schuldgefühle der Suche nach besseren Lösungen im Weg.

Auch wenn wie gezeigt es oft einfacher wäre ohne Schuldgefühle auszukommen, ist dieser Weg oft schwer zu beschreiten weil es tief in unseren Köpfen verankert ist, auf Vorwürfe mit Schuldgefühlen zu reagieren. Um reifere Menschen zu werden, bessere Beziehungen zu pflegen und unsere Ziele effizienter zu erreichen ist aber notwendig unsere Schuldgefühle hinter uns zu lassen und es zu unterlassen andere mit Schuldgefühlen zu manipulieren.

Warum es unmoralisch ist seine eigenen Interessen zu vernachlässigen

November 28, 2012

Ich bin gerade dabei „Clean Coder“ von Robert C. Martin zu lesen. In dem Buch geht es eigentlich darum, wie Professionalität in der Software-Entwicklung aussieht, aber einige Ideen sind sehr aufschlussreich und lassen sich weiter spinnen. Eine zentrale Forderung Martins ist das ein Entwickler Verantwortung übernehmen muss. Er ist der Meinung, dass viele Probleme daher rühren, dass Entwickler nicht bereit sind sich verantwortungsvoll und professionell zu verhalten. Warum es so schwer ist Verantwortung zu übernehmen wird besonders beim Thema Nein-Sagen deutlich, dem Martin ein eigenes Kapitel gewidmet hat.

Das Thema Nein-Sagen ist so wichtig, weil Entwickler einem massiven Druck ausgesetzt sind, Zusagen zu treffen, die sie nicht einhalten können. (Zum Beispiel eine neue Funktionalität bis zu einem bestimmten Termin fertig zu stellen.) Laut Martin beugen sich viel diesem Druck, weil es als der einfachste Weg erscheint, eine Konfrontation zu vermeiden. Die Folge ist, dass diese Entwickler nicht mehr ernst genommen werden. Für sie ist es ok, denn wer nicht mehr ernst genommen wird, von dem wird die Last genommen Verantwortung zu tragen. Was aber darunter leidet, ist der Erfolg des Unternehmens, weil zum Beispiel Zeitpläne oder Zusagen gegenüber Kunden nicht eingehalten werden können.

Der Druck entsteht dadurch, dass viele Parteien ein Interesse daran haben ihre Ziele zügig umzusetzen oder selbst Zusagen gegenüber Kunden machen müssen. Der Druck entsteht nicht nur aus eigennützigen Ambitionen, sondern dient durchaus dem Gesamterfolg. Problematisch wird er da, wo ein Korrektiv fehlt. Dieses Korrektiv ist das Eigeninteresse des Entwicklers. Ob es also zu bestimmten Zusagen kommt,  hängt vom Verhandlungserfolg zwischen Entwickler und anderen Parteien ab. Dieses Vorgehen ist effizienter als die Alternativen, die darin bestünden, dass ein Vorgesetzter die Planung seiner Mitarbeiter übernimmt. Das würde den Vorgesetzen stark belasten und zu schlechteren Ergebnissen führen, weil der Entwickler am besten einschätzen kann, welche Zusagen er machen kann und welche nicht.

Dem gemeinsamen Interesse ist also dann am besten gedient, wenn die Einzelnen ihre Eigeninteressen verfolgen und in Verhandlung mit anderen Übereinstimmungen suchen. Der Grund ist, dass keine Einzelperson oder kein einzelner Funktionsträger über genügen Information verfügt, um entscheiden zu können auf welche Weise das gemeinsame Interesse am besten verfolgt werden kann. Wenn also eine Partei ihre Interessen nur unzureichend nachkommt, gehen Aspekte verloren, die das Gesamtergebnis bereichern würden.

Eine Einschränkung muss ich jedoch machen. Es gibt eine Situation in der es nicht zutrifft, dass es geboten ist seine eigenen Interessen in aller Härte zu verfolgen. Das ist, wenn eine Partei Zwang gegen die andere ausüben kann. Das gilt insbesondere auch für mittelbaren Zwang. Also wenn zum Beispiel ein Unternehmensvertreter Regulierungen zu seinen Gunsten durchsetzt. In dieser Situation führen harte Verhandlungen nicht zum besten denkbaren Ergebnis, sondern zu einem ähnlichen Ergebnis, als wenn eine Seite zu nachgiebig gewesen wäre. Um das beste mögliche Ergebnis zu erzielen ist es also notwendig auf Zwang zu verzichten.

Erlernte Hilflosigkeit

Juni 9, 2010

Menschen sind in unterschiedlichem Ausmaß fähig ihren Alltag zu meistern und ihr eigenes Leben zu gestalten. Ansätze das zu erklären gibt es viele, einen der vielversprechendsten wurde vom Psychologen Martin Seligman erarbeitet und ist unter dem Namen erlernte Hilflosigkeit bekannt geworden. Das Konzept beruht auf der Fähigkeit vieler Lebewesen die verschiedenste Dinge zu erlernen. Sie lehren wie ihre Aktionen die Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass bestimmte Konsequenzen eintreten, aber auch dass das Unterlassen von Handlungen Konsequenzen hat. Die Theorie Seligmans war, dass auch erlernt werden kann, dass die Umwelt von den Handlungen unbeeinflusst bleibt, diese Erfahrung auf andere Handlungen verallgemeinert und so die Motivation überhaupt zu handeln zerstört wird.

In unterschiedlichen Versuchen an Tieren und Menschen wurde diese These geprüft, indem die Versuchslebewesen unkontrollierbaren Reizen (z.B. Stromstöße) ausgesetzt und dann ihre Fähigkeit kontrollierbare Reize zu vermeiden überprüft wurde. Versuchslebewesen, die den unkontrollierbaren Reizen ausgesetzt waren, lernten deutlich schlechter als andere kontrollierbare Reize zu vermeiden. Zum Teil verhielten sie sich ausgesprochen lethargisch und bewegten sich überhaupt nicht.

Natürlich gibt es Faktoren, die die Erfahrung der Hilflosigkeit begrenzen, denn ansonsten würden Ereignisse, die wir nicht kontrollieren können aber unseren Alltag bestimmen, uns in die Hilflosigkeit treiben. Seligman selbst nannte drei Faktoren, die der Hilflosigkeit entgegenwirken, inkompatible Erwartungen, diskriminative Kontrolle und die relative Bedeutung der Konsequenzen.

Inkompatible Erwartungen bilden sich, wenn man lernt, eine Situation kontrollieren zu können. Diese Erwartungen wird man auch dann aufrecht erhalten, wenn die Situation zwischenzeitlich unkontrollierbar geworden ist. Sie sind eine Art Immunisierung gegen Hilflosigkeit.

Diskriminative Kontrolle meint, dass die Art der Situation in der man sich befindet von anderen unterscheidet und die Erfahrung der Hilflosigkeit nur auf bestimmte Situationen bezogen wird. Seligman berichtet von einem Experiment, dass an Schulkindern ausgeführt wurde. Ein Lehrer stellte den Kindern erst unlösbare und dann lösbare Aufgaben, sie waren nicht fähig bei diesem Lehrer die lösbaren zu bewältigen. Stellte ein anderer Lehrer identische Aufgaben lösten die Kinder diese rasch.

Auch die relative Bedeutung der Konsequenzen spielt eine Rolle. Die Erfahrung von Hilflosigkeit in einer irrelevanten Situation  wird keinen Einfluss auf die Handlungsfähigkeit in subjektiv bedeutsamen haben. Umgekehrt jedoch wird die Erfahrung von Hilflosigkeit in bedeutsame Erfahrung auch in irrelevanten Situationen Hilflosigkeit hervorrufen.

Interessanter Weise tritt Hilflosigkeit auch dann ein, wenn die für einen relevante positive Ereignisse ohne eigenes Zutun eintreten. Das erklärt, warum der goldene Käfig die meisten ins Unglück stürzt. Es kann besser sein zu scheitern, als niemals die Möglichkeit zu scheitern gehabt zu haben.

Ich  halte das Konzept der erlernten Hilflosigkeit daher für interessant, weil es uns dazu zwingt, unser Menschenbild zu überdenken. Das Nachdenken über den Mensch war von der Vorstellung geprägt, dass wir unser Handeln an rationalen Überlegungen ausrichten. Die Schlüsse Seligmans zeigen hingegen, dass das Handeln eher das Resultat verallgemeinerter Erfahrung ist. Wir handeln intuitiv, nicht rational. Auch die experimentelle Ökonomie deutet in diese Richtung. Wenn wir unser Menschenbild überdenken, muss das natürlich auch Auswirkung auf unsere politischen Überzeugungen haben.

Der Liberalismus kann den mündigen Bürger nicht einfach voraussetzen. Mündigkeit ist ein Anspruch, keine Tatsache. Entzieht man den Menschen die Möglichkeiten über das für sie relevante zu bestimmen, wird sich Passivität und Lethargie breit machen.

Die Technokratie kann die Gesellschaft nur dann planen, wenn sie weiß wie sich die Menschen verhalten werden. Das Paradigma des auf Anreize rational reagierenden Nutzenmaximierers war ihr lange Zeit das Leitbild dazu. Nun zeigt sich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass Menschen rational reagieren und dass technokratische Planungsphantasien nicht zuletzt daran scheitern müssen.

Am härtesten wird jedoch die Weltanschauung der Linken getroffen. Ihre Überzeugung war es, dass die Gesellschaft den unterschiedlichen Erfolg der Menschen ausgleichen soll. Was der Einzelne erreichen kann, soll nicht von seinen Fähigkeiten und Entscheidungen abhängen, sondern vom gesellschaftlichen Konsens. Ihr Konzept zielt darauf ab, den Menschen die Kontrolle über das allerrelevanteste zu entziehen, ihren Lebenswandel. (Auch Konservative tendieren dazu den Menschen einen bestimmten Lebenswandel zu oktroyieren.) Wird es umgesetzt werden die Menschen den Mut verlieren ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Betrachtet man diese Welt drängt sich einem die Frage auf, ob dieser Prozess nicht schon weit fortgeschritten ist.

Was soll nicht alles Meine Sache sein!

Juni 3, 2010

Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

(…)

Ich brauche gar nicht an jedem, der seine Sache Uns zuschieben möchte, zu zeigen, daß es ihm nur um sich, nicht um Uns, nur um sein Wohl, nicht um das Unsere zu tun ist. Seht Euch die Übrigen nur an. Begehrt die Wahrheit, die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes, als daß Ihr Euch enthusiasmiert und ihnen dient?

(…)

Und an diesen glänzenden Beispielen wollt Ihr nicht lernen, daß der Egoist am besten fährt? Ich Meinesteils nehme Mir eine Lehre daran und will, statt jenen großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein.

(…)

Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin.

Mir geht nichts über Mich!

Das Zitat stammt aus der Einleitung zu Max Stirners „der Einzige und sein Eigentum“. Wie unschwer zu erkennen ist, geht es Stirner um die Emanzipation des Einzelnen von übergeordneten Ideen. Würden wir besser fahren, wenn es keine übergeordneten Ideen gebe, wie Stirner es behauptet? Man denke einerseits an alle irrationalen Ängste, Konflikte und Hemmungen, die wir übergeordneten Ideen zu verdanken haben. Andererseits wie kann ein Kind lernen auf andere in angemessener Weise einzugehen, wenn es keine übergeordneten Ideen gibt, die als moralische Motivation dienen?

Wie lange bleibe ich eigentlich Ich?

Februar 10, 2010

Viele unsere Vorstellung über Recht, Wirtschaft und weiteren Wissenschaften setzen voraus, dass man das Selbst als Einheit auffassen kann. Aber ruht diese Ansicht überhaupt auf einem festen Fundament oder müssen wir sie nicht zugunsten eines differenzierteren Bildes verwerfen? In diesem Beitrag stelle ich unsere Auffassung vom Selbst in Frage und komme zu weitreichenden Konsequenzen.

Zweifel an der Einheit des Selbst wurden vor allem vom Buddhismus angemeldet. Der Doktrin Anatta (Nichtselbst) zufolge gibt es so etwas wie das Selbst nicht, das heißt eine Person ist nicht mit der identisch, die sie vor wenigen Augenblicken noch war. Dieser Gedanke lässt sich durch den Vergleich mit einem Feuer verdeutlichen: Wenn nach einer bestimmten Zeit das Feuer allen Brennstoff verbraucht hat und der durch neuen ersetzt wurde, hat es nichts mehr mit seiner vorhergehenden Erscheinungsform gemeinsam. Daher macht es auch keinen Sinn davon zusprechen, es sei mit der seiner vorhergehenden Erscheinungsform identisch. Dem Buddhismus zufolge verhält es sich mit dem Selbst ähnlich, hier werden alle Empfindungen und Bewusstseinsinhalte (Skandhas) in kurzer Zeit ausgetauscht.

Dem lässt sich wenig entgegenhalten. Weitere Zweifel an der Einheit des Selbst kommen einem, wenn man sich fragt, welche Interessen ein Selbst hat. Diese leiten sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse ab, die sich zum Teil widersprechen. Die Interessen des Selbst werden also erst durch eine willkürliche Auswahl aus diesen Bedürfnissen gebildet. Aber auch nach der Auswahl bleiben Bedürfnisse, die zu den ausgewählten Interessen im Widerspruch stehen, bestehen. Von einer Einheit kann also keine Rede sein.

Die Vorstellung, dass das Selbst keine Einheit darstellt, wirkt sich darauf aus, was unter Recht zu verstehen ist. Aus ihr ergibt sich, dass der Einzelne nicht vollständig über seine späteren Willensäußerungen verfügen kann. Damit verbietet es sich beispielsweise sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen oder in den meisten Fällen sein Leben zu beenden. Auch Handlungen die einen in Abhängigkeit oder zu späteren Gesundheitsrisiken führen sind problematisch. Auf einem anderen Blatt steht in wie fern diese Unrechtshandlungen zu Sanktionen führen können. Bei Sklavereiverträgen ist der Fall eindeutig, hier führt die fehlende Einheit des Selbst dazu, dass die Verträge unwirksam werden. Anders sieht es bei Abhängigkeit und Selbstmord aus, streng genommen hat das Spätere Selbst, das unter Abhängigkeit oder Nichtexistenz zu leiden hat, Ansprüche gegen das Frühere, das diesen Zustand herbeigeführt hat.  Allerdings haben diese Ansprüche keine Auswirkungen, weil alle Güter, aus denen sie erfüllt werden können, ohnehin in das Eigentum des Späteren Selbst übergegangen sind.

Dass das Selbst keine Einheit ist erklärt, wie es zu einer Zeitpräferenz kommt. Wenn ich nicht mit meinem Späteren Selbst identisch bin, haben die Interessen des Späteren Selbst nicht die gleiche Priorität wie die Interessen, die ich hier und jetzt erfüllen kann. Im Extremfall bei einer unendlich hohen Zeitpräferenzrate haben sie gar kein Gewicht, wie beim Pro-Gamer der es zulässt körperlich zu zerfallen, um nicht von seiner Spielsucht ablassen zu müssen. Indes muss man sich fragen, ob nicht Mutter Natur uns Mechanismen in die Wiege gelegt hat die eine unendlich hohe Zeitpräferenzrate verhindern. Wären wir in der Prähistorie zu faul gewesen, um auf die Jagd zu gehen, wir hätten nicht überlebt und unser Erbgut auf die heutige Zeit übertragen.

Ein solcher Mechanismus könnte ein Arbeitsgedächtnis sein, das bewusste Entscheidungen aufnimmt, damit sie später unwillkürlich ausgeführt werden, um so die zeitliche Koordination des Handelns zu erleichtern. Oder die Imagination eines zeitlich unveränderlichen Selbst. Ist also unsere Auffassung über die Zeit hinweg zu überdauern Selbst ein Trick der Biologie der unser Überleben ermöglicht oder steckt doch etwas Tieferes dahinter?

Ernsthafte Zweifel an der buddhistischen Konzeption des Nicht-Selbst kamen mir in der Zeit in der ich Vordiplom machte. Damals musste ich mit großer Intensivität meine Tätigkeiten über einen Zeitraum von mehreren Monaten planen. In der Folge waren meine Handlungen tatsächlich Teil eines übergreifenden Ganzen und nicht Ergebnis einer Kette aufeinander folgender, aber isolierter Bewusstseinszustände. Es ist also möglich durch zeitlich koordiniertes Handeln eine Einheit herzustellen. Nicht so sehr eine Einheit des Selbst, sondern eine Einheit der Persönlichkeit.

Aber ist ein Streben nach der Einheit der Persönlichkeit nicht etwas völlig natürliches? Wie oben bereits angesprochen hat der Einzelne Bedürfnisse die miteinander im Widerspruch stehen, um handlungsfähig zu bleiben muss eine Auswahlgetroffen werden. Müsste diese Auswahl jedes Mal aufs Neue getroffen werden, würde man einen ungeheuren Aufwand treiben. In der Natur kann dieser Aufwand tödlich sein. Effizienter wäre es Regeln festzulegen, nach denen die Interessen ausgewählt werden. Diese Regeln sind es die eine Persönlichkeit ausmachen. Natürlich können auch solche Regeln in Widerspruch stehen. Daher wird je weiter sich eine Persönlichkeit entwickelt, sie  desto mehr nach höher stehenden Prinzipien suchen, nach denen sie ihr Handeln ausrichtet. Die Verwirklichung eines einheitlichen Lebensentwurfs verleiht eine tiefere Befriedigung als das Erfüllen kurzfristiger Bedürfnisse.

Die letzten, moralischen Gedanken tun den rechtlichen Konsequenzen des Nichtselbst keinen Abbruch. Persönlichkeit ist immer nur Möglichkeit, die nicht vorausgesetzt werden kann und eine Persönlichkeit muss in jedem Augenblick das Recht haben mit sich selbst zu brechen.