In einem der letzten Beiträge habe ich die Möglichkeit eines Wandels der Politischen Kultur untersucht. Die Möglichkeit diesen Wandels macht es notwendig, sich mit anderen Weltanschauungen zu beschäftigen, die von diesem Wandel ebenfalls profitieren können. In diesem Beitrag soll die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konservativismus geführt werden.
Wichtig ist es zu festzuhalten, dass Konservativismus nicht einfach im Beharren auf dem Status quo besteht. Der Konservativismus ist nach eigenem Selbstverständnis die Weltanschauung derer, „die die Notwendigkeit von Strukturen erkennen, und die deshalb nicht bereit sind, vorhandene Strkturen zu opfern, ohne etwas Besseres vorweisen zu können.“ Dieses Verständnis wäre eine reine Leerformel, wenn es nicht mit ganz bestimmten Beurteilungen einhergehen würde, denn Linke nehmen für sich in Anspruch Besseres vorweisen zu können, während Liberale die Bewertung der Strukturen, dem Einzelnen überlassen. Diese Beurteilungen besteht zum ersten darin, dass Strukturen für instabil gehalten werden und zu verfallen drohen, wenn nicht Maßnahmen unternommen werden sie zu erhalten. Zum weiteren darin, dass es nicht möglich sei, mit Hilfe des Verstandes geeignete Strukturen zu finden, sondern man auf die vorgefundenen, in der Praxis bewährten zurückgreifen müsse. In diesem Punkt deckt sich die liberale Position mit der konservativen: Auch Liberale gehen davon aus, dass es unmöglich ist lebensfähige Strukturen auf dem Reisbrett zu entwerfen, da den Planern die dazu notwendigen Informationen nicht zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu Konservativen halten Liberale die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen sich Strukturen bilden können, für rational lösbar. Dieser Ansatz wird von Konservativen als Konstruktivismus missverstanden, die daher Liberale als Derivat der Linken einordnen.
Ein wichtiger Unterschied zwischen Liberalen und Konservativen besteht in der Beurteilung des Fortschritts. Dieser wird von Liberalen als notwendig angesehen und begrüßt, da er zum einen Anpassungen an Veränderungen erst ermöglicht, zum anderen Hoffnung darauf verheißt, bestehende Probleme lösen zu können. Konservative können sich der Notwendigkeit von Anpassungen zwar nicht verschließen und gestehen in der Regel ein, dass überlieferte Strukturen dysfunktional werden können, bleiben ihn gegenüber jedoch skeptisch. Die wesentlichen Probleme würden von ihm nicht berührt, die mit ihm einhergehenden Veränderungen werden als Bedrohung wahrgenommen. Der Konservative tendiert statt zu einem linearen Geschichtsverständnis zu einem zyklischen.
Der Konservativismus erhebt den Anspruch, dass seine Ideen mit den historischen Erfahrungen übereinstimmen und verzichtet weitgehend auf Theoriebildung, die über eine Beschreibung des Gegebenen hinausgehen. Meines Erachtens führt dieser Theorieverzicht zu einer Blindheit bezüglich der Unzulänglichkeiten der Konservativen Position. Um das Gegebene beschreiben zu können ist auch der Konservativismus auf Begriffsbildung angewiesen, um dessen Komplexität zu reduzieren. In Prinzip ist es möglich die Reduktion auf eine Weise vorzunehmen, die Widersprüche zu konservativen Ideen eliminiert und somit die konservative Position gegen Kritik immunisiert.
Wegen dem Verzicht auf rationale Erklärung fehlen oft Methoden, um zu beurteilen, ob sich eine Institution überhaupt bewährt hat. Dies führt dazu, dass in einigen Fragen die konservative Position unbestimmt ist: Konservative können Demokratie und Nationalstaat sowohl ablehnend gegenüberstehen, als auch für unverzichtbar halten. Gewöhnlich gehen sie davon aus, dass der Nationalstaat sich gebildet hätte, um Schutz vor äußeren Bedrohungen zu gewährleisten. Dies jedoch ist fraglich, da die Status quo Bias eines Machtgefüges dazu führt, dass Kleinstaaten auf die Unterstützung von Großmächten zählen können, wenn sie von andern Großmächten bedroht werden. (Carl von Clausewitz, Vom Kriege sechstes Buch, sechstes Kapitel). Die Dynamik, die zur Bildung von Nationalstaaten geführt hat, ist auf die Tendenz zurückzuführen, dass im inneren Kampf Macht zunehmend auf zentrale Gebilde verlagert wird. Nachdem diese Tendenz die Nationalstaaten erzeugt hatte, widerholte sich der Prozess auf höherer Ebene, was zur Idee des Staatenbundes und eines vereinten Europas führte. Auf solche Überlegungen muss der Konservativismus aufgrund seines antirationalen Selbstverständnisses verzichten. (Was Konservative natürlich nicht hindert solche Argumente aus anderen Denkschulen zu entleihen.)
Eine Grundtendenz des Konservativismus ist es in aggregierten Begriffen, wie Kultur, Staat u.a., zu denken. Die Möglichkeit solche Aggregate auf ihre Bestanteile zu reduzieren wird nicht in Erwägung gezogen, wenn dies zur Beschreibung der Interaktionen zwischen ihnen nicht notwendig ist. Die Identifikation von Institutionen als bewährt, ist daher oft ein sehr viel Schwächeres Argument als es sich Konservative vorstellen. Der Begriff Ehe fasst sehr verschiedene Verhältnisse zusammen, die von dem Rechtsverhältnis über die sozialen Erwartungen bis hin zur Ausgestaltung des Zusammenlebens reicht. All diese Elemente haben sich im Lauf der Zeit stark verändert. Von der Ehe als bewährte Institution zu sprechen verdeckt jedoch diese Veränderungen, es ist nicht auszuschließen, dass durch die Veränderungen, das was sich bewährt hat, schon verlorengegangen ist.
Pluralismus wird als unnötiges Detail meist ausgeblendet. Konservative haben an Phänomene, die durch Pluralismus hervorgerufen werden, nur geringes Interesse. Sie betonen stattdessen das Ganze und das zum Teil soweit, dass sie diesem zubilligen selbst Träger von Rechten zu sein. Aus diesem Gedanken können die Verneinung des Parteienstaates und Sympathie für Sozialismus abgeleitet werden. Solches Denken befindet sich immer in Gegnerschaft zum Liberalismus, das Ganze ist immer eine Abstraktion ohne eigene Existenz, dem als solche auch keine Rechte zu Teil werden können. Zudem ist es ohne Zugang zum Pluralismus nicht möglich den Wert der Freiheit zu erkennen.
Die konservative Einschätzung, dass Strukturen instabil sind, geht mit der Auffassung einher, die es dem Einzelnen nicht zutraut funktionierende Strukturen aufzubauen. Ganz anders der liberale Ansatz, hier werden Strukturen immer durch Einzelne gebildet. Sie müssen jedes Mal aufs Neue beweisen, dass sie den Bedürfnissen des Einzelnen angemessen sind. Die Einzelnen werden dabei in erster Linie die eigenen Erfahrungen zurate ziehen, dann erst Tradition und rationale Überlegungen. Aus dieser Betrachtungsweise heraus wird die Stabilität von Institutionen weit großer eingeschätzt als von Konservativen, die anonymen Kräfte der Selbstorganisation verleihen funktionierenden Institutionen Dauer. Konservative glauben nicht an Selbstorganisation, daher sind es für sie ein Korsett von Maßnahmen, von gesellschaftlicher Ächtung bis zum Strafrecht, das den Institutionen die Stabilität gewährt. Aus liberaler Sicht ist ein solches Korsett eine Anmaßung von Wissen. Der Einzelne ist besser als alle anderen dazu geeignet zu entscheiden, ob die Institutionen, den er sich unterwirft, seiner Situation noch angemessen sind und muss daher die Fähigkeit haben sich Institutionen zu verweigern, für die dies verneint wird. Maßnahmen, die Strukturen künstlich aufrecht zu erhalten, würden die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft reduzieren. Für Fragen bei den nicht zu erwarten ist das funktionierende Institutionen in annehmbarer Zeit bilden, übernehmen Liberale die konservative Denkweise, das betrifft vor allem den Rechtsstaat. Mischpositionen zwischen beiden Weltanschauungen sind möglich und existieren in vielen Varianten.
Im Konservativen Denken werden funktionierende Institutionen, nicht durch Selbstorganisation geschaffen, sondern zu allererst von Ausnahepersönlichkeiten oder einer natürlichen Elite. Der Glaube an eine natürliche Elite ist oft mit der Vorstellung verbunden, dass deren Herrschaft institutionell abgesichert werden muss. Daraus ergibt sich eine Präferenz für autoritäre Staatsmodele und gegen begrenzte Herrschaft. Die liberale Kritik an dem Konzept der natürlichen Elite besteht in der Feststellung, dass sich eine natürliche Elite beweisen muss ohne durch besondere Institutionen abgesichert ist. Die Kritik an unbegrenzter Herrschaft liegt auf der Hand.
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Konservative Position eine Vielzahl von Fallstricken aufweist, die tendenziell zu einer gefährlichen Agenda führen können. Der Liberalismus kann die Argumente zur Verfügung stellen, die zum Vermeiden dieser Fallen notwendig sind. Ob dies von konservativer Seite angenommen wird hängt nicht zu letzt davon ab, ob es möglich ist die Argumente in einer Form vorzubringen, die mit dem konservativen Denken kompatibel ist.