Posts Tagged ‘Rechtsphilosophie’

Ein Moralisches Dilemma?

November 12, 2012

Stellen wir uns folgende Situation vor: Wir haben ein Zusammentreffen von drei Personen. Person A besitzt eine Waffe. Person B besitzt Güter. Person C stirbt, wenn sie nicht ein Gut erhält, die B besitzt. Darüber das es moralisch geboten wäre, dass B C das Gut gibt müssen wir nicht streiten, aber was ist mit folgenden Fragen:

Hat A das Recht dazu, B zu zwingen C das Gut zu geben?

Ist es moralisch geboten das A so handelt?

Sollte sich B widersetzten, darf A B töten?

Hat B das Recht sich zu widersetzten?

Sollte sich B zu Wehr setzten und dabei A töten, war es Notwehr?

Bevor ich versuche meine abschließende Meinung zu formulieren, werde ich versuchen das Verhältnis zwischen den einzelnen Fragen zu klären. Wenn man A das Recht zubilligt Zwang gegenüber B auszuüben, macht es wenig Sinn B das Recht zuzusprechen, sich zu wehrzusetzen. Denn dann stünde der Zwang As, B zu einer Handlung zu zwingen, gegen Bs Zwang, dies A zu untersagen. Also Zwang gegen Zwang, das Recht des Stärkeren. Umgekehrt wenn man A dieses Recht nicht zubilligt, impliziert das bereits, dass wir B das Recht zusprechen, sich zu wehrzusetzen. Denn ohne das Recht Bs sich zu wehren, hat A de facto das Recht Zwang auszuüben. Die Antwort die wir auf Frage 1 geben, bestimmt also schon die Antwort auf Frage 4.

Auch Frage 4 und Frage 5 stehen in einem engen Zusammenhang. Die Prinzipen, nach denen in der orthodoxen Jura Notwehr angewendet werden darf, sind meines Erachtens überzeugend und auch in diesem Fall anzuwenden. Sollte man B das Recht zubilligen sich zu Wehr zu setzen, hat B zwar das relativ mildeste Mittel zu wählen, den Angriff sicher und endgültig abzustellen, muss sich aber nicht auf Risiken bei der Verteidigung einlassen oder die Flucht ergreifen. Also wäre es dann unter Umständen gerechtfertigt A zu töten.

Ähnlich verhalten sich Frage 1 und Frage 3. Wenn wir A das Recht zugestehen Zwang auszuüben, muss er auch das mildeste Mittel anwenden dürfen diesen sicher und endgültig durchzusetzen. Andernfalls hätten wir A de facto das Recht verweigert. Ist das mildeste Mittel B zu töten (z.B. weil B sich zu Wehr setzt), hat A das Recht dazu.

Schwieriger ist das Verhältnis zwischen Frage 1 und Frage 2. Wenn wir A das Recht verwehren Zwang auszuüben, kann der Zwang auch nicht moralisch geboten sein. Da für die meisten Menschen das Leben das höchste Gut darstellt, würden wir es wohl für geboten halten, Zwang einzusetzen, wenn das zulässig ist. Andererseits hat die Frage was moralisch geboten ist immer auch ein subjektives Element. Daher nehme ich an das es für Frage zwei keine abschließende Antwort gibt.

Wenden wir uns also Frage 1 zu. Eine naive Ansatzweise würde einfach eine Güterabwägung vornehmen. Weil das Leben das höchste Gut ist, wiegt es auch höher als die Freiheit vor Zwang. Daher ist es richtig das A Zwang gegen B ausübt. Aber einfach danach zu urteilen, was mehr Menschenleben rettet würde es letztlich erlauben, willkürlich Menschen zwecks Organentnahme zu töten, wenn damit mehrerer Menschenleben gerettet werden können. Dieses Verfahren würden die meisten wohl ablehnen, es zeigt also, dass eine einfache Güterarithmetik nicht funktioniert.

Meines Erachtens liegt Hauptgrund für die Ablehnung in der Ungerechtigkeit, die darin besteht ohne besonderen Grund manche zu töten, während andere davon kommen. Also eine Willkür vorliegt, die einen ohne jede Sicherheit zurücklässt. Ich denke das lässt sich verallgemeinern. Wenn Zwang überhaupt zulässig sein soll, muss er nach allgemeinen Regeln angewendet werden, so dass der Einzelne ihn antizipieren kann. Das spricht tendenziell dagegen, dass im Dilemmaszenario Zwang zulässig ist. Es lässt sich für einen Besitzer von Gütern nicht antizipieren, dass ausgerechnet er seine Güter abgeben soll. Das Argument ist aber noch nicht 100% überzeugend, weil man das Leben immer noch als schwerwiegender erachten kann als die Freiheit von Zwang und Willkür.

Es gibt einen wichtigen Einwand gegen die Entscheidung, das Leben höher zu gewichten, als die Freiheit vor Zwang. Welche Wirkung es hat Zwang anzuwenden, lässt sich nicht vorhersehen. Insbesondere dann nicht, wenn er nach allgemeinen Regeln angewendet wird und somit keine Möglichkeit zu einer Feinanpassung besteht. Im Szenario kann Zwang folgende Auswirkung haben: B entsteht durch die Herstellung des Guts Kosten. Wenn B sein Gut nicht kostendenkend verkaufen kann, wird er die Produktion einstellen, so dass unterm Strich alle schlechter gestellt sind. (A könnte B natürlich dazu zwingen trotz Defizit weiter zu produzieren. Das wäre in letzter Konsequenz aber nichts anderes als Sklaverei. Ich denke nicht dass das Leben schwerer wiegt, als die Freiheit über sein Leben selbst bestimmen zu dürfen, denn ohne diese Freiheit ist das Leben selbst stark entwertet.)

Dieses Problem tritt immer auf, wenn sich die Dilemmasituation regelmäßig wiederholt oder sowieso auf Dauer angelegt ist. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Anwendung von Zwang den Ausgang einer Situation eindeutig bestimmt. In einer Situation in der es um das Handeln Einzelner geht, kann man noch von Übersichtlichkeit ausgehen. Aber diese Übersichtlichkeit geht verloren, wenn wir uns mit Folgen von Regeln die allgemein gelten befassen. Aber gerade die Annahme, dass durch Zwang das Leben von C sicher gerettet werden kann, also keine Unübersichtlichkeit vorliegt, liegt der Abwägung von Leben und Freiheit zugrunde. Ohne genaue Einsicht in die Beschaffenheit der Welt lässt sich eine solche Güterabwägung also gar nicht vornehmen.

Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Erstens man versucht die Regeln mit der Zeit immer weiter zu verbessern, damit sie der Beschaffenheit der Welt immer besser gerecht werden. Das ist aber mit dem Problem verbunden, dass die Regeln in Teilen immer ungerecht sein werden und immer ein Dissens darüber herrschen wird wie die Welt nun im Einzelnen beschaffen ist und folglich immer auch ein Dissens über die Regeln selbst. Oder Zweitens man erklärt Zwang unter allen Umständen für nicht gerechtfertigt.

Verlieren wir allzu viel wenn wir auf Zwang verzichten? Ich denke nicht. Um in Szenario zu bleiben: A kann nur dann Zwang gegen B ausüben, wenn das legitim ist, also dem Leben allgemein ein so hoher Wert zugemessen  wird, dass er auch die Sicherheit aussticht frei von Zwang zu sein. In so einer Situation ist es jedoch auch möglich Schutz für das Leben zu organisieren, ohne auf Zwang zurückgreifen zu müssen.

David Friedman über Bestrafung

Oktober 14, 2012

Letzte Woche bin ich auf einen sehr interessanten Artikel von David Friedman gestoßen (via Libertäre Gedanken). Friedman setzt sich darin mit dem Problem auseinander wie Rechtsübertretungen geahndet werden sollen. Dazu stellt er zunächst fest, dass das gegenwärtige System viel Raum für Effizienzsteigerungen lässt. Für Friedman ist eine Strafe dann effizient, wenn ihre Umsetzung weniger Kosten als andere Verursacht, aber Kriminelle im gleichen Maß vor Verbrechen abschreckt. Menschen ins Gefängnis zu stecken sei unnötig teuer, eine effizientere Möglichkeit sei es, die Todesstrafe auf alle Verbrechen anzuwenden. Bei Verbrechen, bei denen die Todesstrafe nicht gerechtfertigt erscheint, schlägt er vor die Todesstrafe nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu vollstrecken und den Delinquenten ansonsten laufen zu lassen. Das sieht zum Beispiel so aus, das ein Verbrecher, der 10 Jahre Haftbekäme mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/6 gehängt werden würde und mit 5/6 laufen gelassen wird. Desweiteren seien nach Friedman Strafzahlungen und Zwangsarbeit effektive Bestrafungsmethoden.

Obwohl es für Friedmans weitere Argumentation keine Rolle spielt muss ich ihm in einem Punkt wiedersprechen. Meines Erachtens ist es nicht möglich zwei Ungerechte Strafen so zu verknüpfen das eine gerechte herauskommt. Ein Räuber der 10 Jahre Gefängnis verdient hat erleidet eine massive Überbestrafung, wenn man in hängt und erfährt eine massive Unterbestrafung, wenn man ihn laufen lässt. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass man das Los über die Strafe entscheiden lässt. Denn in dem Fall ist das Los nur der Entscheidungsmechanismus, aber die Tatsache dass gelost wird ist nicht die Strafe selbst. Desweiteren glaube ich nicht das es möglich ist, so unterschiedliche Dinge wie Gefängnis- und Todesstrafe miteinander zu verrechnen, denn die Todesstrafe bedeutet mehr als nur den Verlust an Lebenszeit, den man durch das Gefängnis zu erleiden hätte.

Friedman macht seinen Vorschlag natürlich nicht, weil er ihn für das bessere System hält, sondern um eine bestimmte Tatsache zu demonstrieren. Er merkt daher selbst, an das so ein System kaum überzeugen kann und dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten zuwiderläuft. Laut Friedman ist das Problem bei einem effektiven Strafsystem, dass es nicht nur keine Kosten verursacht, sondern manche Akteure können in so einem System das Humankapital oder sogar biologische Kapital der Delinquenten abschöpfen, ob sie nun schuldig sind oder nicht. Da das Rechtssystem nun aber nicht von Philosophen-Königen gleitet wird, sondern von Menschen die auf Anreize reagieren, wird ein effektives Bestrafungssystem selbst Kosten verursachen, indem  es die Wahrscheinlichkeit hochtreibt, dass man als Unschuldiger und für sehr geringe Vergehen hart bestraft wird. Unter einem Solchen System werden die Menschen also Maßnahmen ergreifen, die dazu dienen sich vor ungerechtfertigten oder überzogenen Strafen zu schützen. Diese Maßnahmen gehen nun selbst wieder auf Kosten der wirtschaftlichen Effektivität und der Lebensqualität. Daher ist es unterm Strich vorteilhafter, auf ein effektives Bestrafungssystem zu verzichten und es bei einem weniger effizienten zu belassen.

Ich finde Friedman hat mit seiner Argumentation einen sehr zentralen Punkt erfasst. Aus ihr geht zwanglos hervor, warum es in einem guten Justizsystem mindestens genauso wichtig ist Unschuldige vor Strafe zu verschonen, wie Schuldige zu bestrafen. Seine Argumentation ist unabhängig davon wie das Rechtssystem sonst ausgestallt ist. Ob es auf Tradition, Demokratischer Mehrheitsentscheidung oder Anarchokapitalistischen Rechtsagenturen beruht spielt keine Rolle; jedes dieser Systeme kann in die Friedmansche Effizienzfalle laufen. Dass es tatsächlich Situationen gibt, die nach dem Friedmanschen Schema verlaufen sieht man zum Beispiel an der deutschen Abmahnindustrie, in der die Anwälte von einem zu viel an Abmahnungen profitieren. Friedmans Argumentation zeigt also ein tatsächlich noch ungelöstes Problem auf.

Haben geistiges Eigentum und physisches Eigentum gemeinsame Wurzeln?

Oktober 23, 2011

Es ist kein Geheimnis, dass die mit dem Internet großgewordene Generation ein anderes Rechtsverständnis gegenüber dem Geistigen Eigentum zeigt, als die älteren. File-Sharing und andere Methoden, um Inhalte auszutauschen erfreuen sich großer Beliebtheit und machen dabei auch vor den Grenzen des Gesetzgebers keinen Halt. Dabei scheinen die Beteiligten noch nicht einmal ein allzu großes Unrechtsbewusstsein entwickelten. Unter Konservativeren Zeitgenossen wird diese Entwicklung mit Sorge betrachtet. Ihnen gilt die Erosion des Respekts vor dem geistigen Eigentum als Niedergang des Respekts vor dem Eigentum allgemein. Doch ist das tatsächlich so oder sind geistiges und physisches Eigentum nicht vielmehr völlig unterschiedliche Dinge?

Ein oft gebrauchtes Argument für eine solche Verbindung ist, dass das Recht auf Eigentum der Leistung entspringt, die ein Einzelner erbracht hat. Ebenso, wie der Bauer ein Anspruch auf die Saat erhält, weil er für sie den Boden bestellt hat, habe ein Dichter ein Anrecht auf das Gedicht, das er erdachte. Es handelt sich also um ein Gerechtigkeitsargument. An diesem Argument ist einiges auszusetzen.

So entspricht es kaum mehr der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen, die in der Regel keinen Landwirtschaftlichen Betrieb führen. (Relevant ist diese Betrachtung tatsächlich nur im Primärsektor) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger erhält einen Anspruch auf seinen Lohn, weil er mit seinen Arbeitgeber bzw. Kunden einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen hat. Die Quelle des Eigentums sind hier also freiwillige Vereinbarungen. Aber welche freiwillige Vereinbarung habe ich mit einem Erfinder getroffen, dass er das Recht erhält mich an dem Nachbau seiner Erfindung zu hindern?

Ob eine Handlung als Leistung zählt muss sich daran zeigen, dass andere bereit sind für diese Leistung eine Gegenleistung zu erbringen oder ob der Handelnde selbst ein Nutzen daraus ziehen kann. Bestehen diese Voraussetzungen nicht, kann der Handelnde auch nicht erwarten für sein Handeln eine Abgeltung zu erhalten. Übertragen auf unseren Fall bedeutet das, dass das Gerechtigkeitsargument nicht greift, da dem Schöpfer eines Werks im Vornherein klar sein muss, was er als Gegenleistung für sein Schaffen erhalten kann und seine Leistung mit Erhalt des Vereinbarten Lohns abgegolten ist. Um die Gerechtigkeit einzuhalten ist es also unerheblich, ob geistiges Eigentum besteht oder nicht. Natürlich lässt sich an der Stelle einwenden, ob es in der Summe mehr Nutzen schafft, wenn man Geistiges Eigentum definiert, nur ist das kein Gerechtigkeitsargument mehr. Mit dem Nutzargument werde ich in einem späteren Artikel auseinandersetzten.

Das Gerechtigkeitsargument geht von der Annahme aus, dass der Eigentumsbegriff so geschaffen wurde, dass Leistungen in den gesellschaftlichen Interaktionen angemessen berücksichtigt werden. Wir haben jedoch gesehen, dass der Ursprung des Eigentums nicht die Leistung ist, die jemand erbringt, sondern vielmehr der Eigentumsbegriff bestimmt, was als Leistung gelten kann. (Genauer: der Eigentumsbegriff stellt den Rahmen für die Integrationen, die bestimmen was Leistung ist.)Es stellt sich also die Frage, wodurch das Eigentum begründet wird.

Weiter oben polemisierte ich gegen das Geistige Eigentum mit der Frage: „welche freiwillige Vereinbarung habe ich mit einem Erfinder getroffen, dass er das Recht erhält mich an dem Nachbau seiner Erfindung zu hindern?“ Kommunisten verschärfen, diese Argumentation noch indem sie fragen: „welche freiwillige Vereinbarung habe ich mit einem Eigentümer getroffen, dass er das Recht erhält mich an der Nutzung der Gegenstände die ihn gehören zu hindern?“ Wenn geistiges und physisches Eigentum tatsächlich den gleichen Ursprung hätten, müsste man das Prinzip, das hinter der jeweiligen Frage steht, auf die gleiche Weise behandeln.

Versuchen wir die Prinzipien mit Hilfe eines verallgemeinerter kategorischen Imperatives zu beurteilen: Ist es denkbar, dass das den Fragen zugrunde liegende Prinzip allgemeine Geltung haben? Das hinter der ersten Frage stehende Prinzip ist, dass das Recht eine Erfindung zu nutzen nur aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung eingeschränkt werden kann. Dies ist sicherlich der Fall, eine Idee anzuwenden beansprucht keine Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen würden. Anderes das Prinzip hinter der zweiten Frage: Die Nutzung physischer Gegenstände darf nur aufgrund von freiwilligen Vereinbarung eingeschränkt werden. Dieses Prinzip kann unmöglich allgemein gelten, da es rein logisch nicht denkbar ist, dass zwei Personen gleichzeitig die physische Kontrolle über den gleichen Gegenstand ausüben. Ebenfalls ist es unmöglich gleichzeitig den gleichen Gegenstand zur Nutzung bereitzuhalten ohne eine Vereinbarung über mögliche Konfliktfälle zu treffen.

Wenn man nun fordert, dass der Umgang miteinander durch allgemeine Prinzipien geregelt sein soll, muss zu diesen Prinzipien eine Norm über physisches Eigentum gehören. Ähnliches lässt sich über geistiges Eigentum nicht sagen. Damit ist klar, dass die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz des physischen Eigentums Normen nachbilden, die sich auch durch freiwillige Interaktionen herausbilden würden, während die Bestimmungen zum Schutz des geistigen Eigentums eine reine juristische Fiktion darstellen. Aus diesen Gründen ist es meines Erachtens absurd zu erwarten, dass ein „Raubmordkopierer“ plündernd durch die Lande ziehen wird. Die Achtung des Eigentums wird durch die Missachtung des geistigen Eigentums nicht tangiert, da es sich um grundsätzlich unterschiedliche Dinge handelt.

Wikileaks und die Konflikte von Morgen

Dezember 18, 2010

Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass in die Ereignisse der vergangenen Wochen die Zukunft ihre Schatten vorauswarf. Plattformen wie Wikileaks und vor allem der Umgang mit ihnen werden das Zeitgeschehen prägen, wie wenige Begebenheiten zuvor. Wir werden Zeuge davon, wie sich die gängigen Methoden gesellschaftliche Konflikte zu regulieren auflösen. Im alten Paradigma wurden Konflikte zentral gelöst. Der Staat war die Instanz, die als Ordnung setzende Macht, entschied wie mit Streitfragen umzugehen sei. Diese Funktion wird durch drei Entwicklungen Infrage gestellt, die sich in den vergangenen Ereignissen herauskristallisieren. Das sind die wachsende Komplexität der Gesellschaft, die nicht-Territorialität des Internets und die durch das Internet entstandene Möglichkeit der Viele-zu-Viele-Kommunikation.

Man konnte schon an der Vergangenheit sehen, dass die staatlich-zentrale Gesetzgebung nicht mehr mit der wachsenden Komplexität der Gesellschaft mithält. Eine erfolgreiche zentrale Gesetzgebung setzt voraus, dass der Staat in der Lage ist die Kompetenzen zu mobilisieren, die nötig sind, um in einer Streitfrage eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Der Punkt an dem sich die Parlamentarier selbst die nötigen Kompetenzen aneignen konnten, ist schon längst überschritten. Das erforderliche Detailwissen ist zu umfangreich. Davon zeugen die wachsende Spezialisierung der Abgeordneten und die Kompetenzverlagerung auf externe Berater und Kommissionen. Schon dieses Vorgehen war problematisch, weil es den Gesetzgebungsprozess durch Lobbygruppen beeinflussbar gemacht hat.

Dass das inzwischen nicht mehr ausreichend ist sieht man beispielsweise an der Novelle des Jugendmedienstaatsschutzvertrags. Hier griff die Politik offenbar auf Berater aus der Wirtschaft genauer den Produzenten sogenannter jugendgefährdender Inhalte zurück. Diese schafften es auch einen Vorschlag vorzulegen, der einer bestimmten Interessensabwägung gerecht wird. Der zwischen den Medien, die sogenannter jugendgefährdender Inhalte verbreiten möchten und den Eltern, die ebendiese Inhalte von ihren Kindern verbergen wollen. Der Vorschlag ließ jedoch die Anliegen von Gruppen außeracht, die nicht an der Beratung beteiligt waren, insbesondere derjenigen die auf privater Basis Inhalte ins Netz stellen. So kam es, dass fast ein Vorschlag umgesetzt wurde, der den einfachen Blogger mit erheblichen Risiken belastet hätte.

Der Vorgang zeigt, dass es der Politik nicht mehr gelingt die wesentlichen Interessenskonflikte, die sich aus einer Neuregelung ergeben, zu identifizieren und daher notwendigerweise Regeln beschließt, die massiv in die berechtigten Interessen bestimmter Gruppen eingreift. Je komplexer die Gesellschaft wird, desto komplexer werden die Konflikte und desto schlechter gelingt Politik. Wir haben es hier mit dem Problem des verteilten Wissens zu tun. Ähnlich wie ökonomische Probleme nicht durch zentrale Planung gelöst werden können, da das erforderliche Wissen über alle Wirtschaftssubjekte verteilt ist, können Interessenskonflikte nicht zentral gelöst werden. Der Ausweg besteht darin, den Anspruch, diese Probleme zentral zu verwalten, aufzugeben und stärker darauf zu vertrauen, dass sich durch dezentrale Vermittlung spontan tragfähige Regeln herausbilden.

Die zweite Entwicklung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, ist der Umstand, dass das Territorialprinzip nicht auf das Internet angewendet werden kann. In der offline-Welt wird ein Streitfall nach den Gesetzen des Staates entschieden, auf dessen Territorium er aufgetreten ist. Im Internet kann man nicht ohne weiteres entscheiden, wo ein Streitfall auftritt. Der Status Quo ist, dass auf jeden Inhalt, der im Netz steht, die Gesetze jedes Staates angewendet werden können, in denen er verfügbar ist. Es ist möglich, dass einem Brasilianer, der auf Servern in den USA rechtradikale Propaganda betreibt, in Deutschland der Prozess gemacht wird. Auf einem anderen Blatt steht, ob ein Staat sein Recht auch international durchsetzen kann. Jemand, der sich durch seine Veröffentlichung im Internet strafbar gemacht hat, kann einer Strafe entgehen indem er die Staaten meidet, in denen er verfolgt wird. Die Folge ist Staaten das Mittel der Strafverfolgung nicht mehr zur Verfügung steht, um unliebsame Inhalte aus seinem Territorium fern zu halten.

Der Kampf gegen Inhalte aus dem Internet wird also mit unorthodoxen Methoden geführt. Ein Beispiel wie so ein Kampf aussehen kann bietet uns Wikileaks. Hier sehen wir, dass nicht mehr allein bei den Urhebern der unerwünschten Inhalte angesetzt wird, sondern zunehmend die Ressourcen angegriffen werden, die dazu dienen die Inhalte zu verbreiten. Im Fall von Wikileaks waren das zum einen die Serverkapazitäten, die durch DoS-Attacken und der Verweigerung von Dienstleistern, eingeschränkt wurden, zum anderen die Finanzströme. Die Attacken auf Wikileaks konnten zum Teil durch eine Solidarisierungswelle abgewehrt werden. Es wurde Druck auf Unternehmen ausgeübt, ihre Dienste weiterhin auch Wikileaks anzubieten und es wurden Mirrors für die Wikileaks eingerichtet.

An den Kämpfen um Wikileaks sehen wir, das sich die Austragung der Konflikte von staatlichen Institutionen auf die Zivilgesellschaft zurück verlagert. Der Kampf darum, welche Inhalte im Netz stehen können, wird nicht mehr vor Gericht ausgetragen, er entscheidet sich dadurch welche Seite mehr Anhänger mobilisieren kann. Von Hayek stammte die Deutung, dass die Demokratie das Ergebnis eines Bürgerkriegs vorwegnimmt, da die Seite die sich im Parlament durchsetzt auch die sei, die sich in einer gewaltsamen Auseinandersetzung durchsetzen würde. Da die Regelsetzung der Parlamente nicht mehr greift, kehren im Internet bürgerkriegsähnliche Verhältnisse wieder. Das muss nicht das letzte Wort sein. Es ist denkbar, das sich aus den bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen eine Ordnung herausbildet durch die Konflikte dezentral reguliert werden können. Eine Reihe ungeschriebener Gesetze durch die die Anwendung destruktiver Methoden sanktioniert wird.

Zuletzt wenden wir uns der Möglichkeit der Viele-zu-Viele-Kommunikation zu. Durch das Internet ist es dem Einzelnen möglich geworden mit überschaubarem Aufwand ein Massenpublikum zu erreichen. Nur wenigen gelingt das tatsächlich, aber die Möglichkeit ist prinzipiell da. Damit verändert sich auch das Verhalten der Konsumenten von Information. Griff er in der Vergangenheit auf einige wenige Informationsquellen mit hohem Bekanntheitsgrad zurück, stehen ihm heute zusätzlich Quellen mit mittlerem Bekanntheitsgrad zur Verfügung. Die Funktion der alten Medien den gesellschaftlichen Diskurs zu fokussieren geht damit verloren. Neben dem Hauptdiskurs werden zahlreiche Nischen- und Nebendiskurse geführt. Nachrichten und Ideen die früher aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrängt werden konnten, können heute ungehindert verbreitet werden. Als Beispiel sei der Maskulismus genannt, der sich ohne Internet nicht hätte entwickeln können.

Durch das Internet besteht also die Möglichkeit, dass sich auch die Diskursführung dezentralisiert. Der einzelne rezeptiert nicht mehr nur den Hauptdiskurs sondern konzentriert sich auf die Diskussionen, die für ihn tatsächlich relevant sind und kann prinzpiell auch zu ihnen beitragen. Ebenso verändert sich die journalistische Sorgfalt, konnten die Medien früher auf ihrer Autorität vertrauen, wird im Internet erwartet, dass sich die Hauptaussagen durch Verlinken der Hauptquellen auch belegen lassen.

Wir haben also gesehen, dass wegen verschiedenen Entwicklungen, die sich vor allem in Internet abspielen, sich die Konfliktregulierung von staatlich-zentraler Ebene auf die zivilgesellschaftlich-dezentrale Ebene verlagert. Das betrifft sowohl, die Art wie Lösungen von Konflikten gefunden werden als auch wie diese durchgesetzt werden. Viele werden darin ein Bedrohung sehen, angetrieben von der Angst die Anarchie des Internets wird zu einer Anomie führen. Aber vielmehr besteht die Hoffnung, dass sich im Internet die Ordnungsstrukturen herausbilden, die erforderlich sind, um die Konflikte einer komplexer werdenden Welt zu bewältigen. Wer weiß vielleicht werden diese Ordnungsstrukturen, sollten sie sich als erfolgreich erweisen, als Vorbild für die Neugestaltung der Offline-Welt dienen.

Konsens versus wertneutrale Demokratie

November 16, 2010

In einem Kommentar der Welt wird beschrieben wie sich die Grünen vom Modell der parlamentarischen Demokratie immer weiter verabschieden und es durch einen Anspruch auf kulturelle Mehrheit konterkarieren. Der Mehrheit des Parlaments wird ein behaupteter Konsens der Bevölkerung gegenübergestellt. Auch aus libertärer Sicht ist diese Entwicklung mit Skepsis zu sehen. Die Gefahr, die vom grünen Politikverständnis ausgeht, liegt darin, dass bestimmte Werte verbindlich gemacht werden sollen. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist ein politisches System, das bestimmte Werte verbindlich macht, nicht funktional und droht zu scheitern.

Die philosophische Reflektion sagt und zwar, dass man Werte nicht auf ein letzten Endes rationales Fundament stellen kann (das Problem der Letztbegründung), aber um Werte kommen wir im Alltag nicht herum, denn im Grund sind Werte nichts anderes als die Prinzipen, durch die wir unserem Handeln Konsistenz verleihen. Hätten wir keine Werte wäre jede unserer Handlungen durch den Zufall bestimmt  und würden kein stimmiges Gesamtbild ergeben. Andererseits kann man in jedem Handeln, das ein stimmiges Gesamtbild  ergibt, Werte erkennen. Wenn jemand jeden Morgen Wurst statt Marmelade isst, lässt sich herauslesen, dass er den Wert von Wurst höher achtet als den von Marmelade. Um ein triviales Beispiel zu nennen. Die Werte eines einzelnen müssen nicht zwangsläufig in sich stimmig sein, aber je reflektierter eine Person ist, desto eher kann man erwarten, dass ihre Werte auch in sich konsistent sind.

Die entscheidende Frage der Politik ist, wie sich Staat bzw. das politisch System zu Werten verhalten soll. Diese Frage ergibt sich aus dem Umstand, dass die Werte der Einzelnen mitunter unvereinbar sind und so zu Konflikten führen. Nehmen die Konflikte überhand droht die Gesellschaft zu zerbrechen. Da nun aber der Einzelne auf eine funktionierende Gesellschaft angewiesen ist, um seine Ziele zu verfolgen, ist die funktionierende Gesellschaft der Wert der alle anderen Werte bedingt. Das politische System ist also so auszugestallten, dass die Konflikte minimiert werden.

Ein Ansatz das Verhältnis von Staat und Werten zu bestimmen ist, das der Staat bestimmte Werte für verbindlich erklärt. Am klarsten geschieht dies in totalitären Staaten in den er der Bevölkerung eine eindeutige Ideologie vorgibt und mit autoritären Mitteln durchsetzt. Oberflächlich betrachtet ist das Problem gelöst, da alle Konflikte zu Gunsten der Staatsideologie entschieden werden. Jedoch gerät der totalitäre Staat selbst mit den Bürgern in Konflikt, nicht nur in dem er sich über ihrer eigenen Werte hinwegsetzt, sondern auch weil die Mittel eines autoritären Staates selbst die Werte der Bürger verletzt. Ein Staat, der das Denunziantentum fördert, zerstört das Vertrauen, das für funktionierende persönliche Bindungen unerlässlich ist. Ein Staat, der kein faires Gerichtsverfahren gegen seine Kritiker zulässt, wendet sich gegen das Gerechtigkeitsempfinden seiner Bürger.

Der Konflikt zwischen Staat und Bürger kann das politische System selbst gefährden. Wie man beispielsweise am Untergang der DDR sehen kann. Bestimmte Werte durch den Staat für verbindlich zu erklären, ist demnach selbst dysfunktional, es schafft mehr Konflikte als dadurch gelöst werden. Das Gegenmodell zum totalitären Staat ist das freiheitlich-demokratische System. In diesem System werden dem Einzelnen keine Werte vorgeben. Es ist möglich es über bestimmte Werte etwa die Menschenwürde zu rechtfertigen, es reicht jedoch aus es rein funktional zu begründen.

Die Konfliktbewältigung wird im freiheitlich-demokratische System auf zwei verschiedenen Weisen erreicht. Zum einen dadurch,  dass den Einzelnen Rechte zugeteilt werden, durch die ihre Entscheidungsbereiche klar voneinander getrennt werden. Zum anderen dadurch, dass dort wo augenscheinlich die Interessen Vieler berührt sind demokratische Verfahrensregeln eingeführt werden. Es werden also keine Inhaltlichen Kriterien vorgegeben sondern formale. Eine Entscheidung wird nicht ihrem Inhalt nach beurteilt, sondern anhand der Art ihres Zustandekommens. Das wirkt konfliktmindernd, weil ein größeres Maß an Übereinstimmung erreicht werden kann, als bei inhaltlichen Vorgaben. (Mehrheiten gelten als legitim weil sie zumindest oberflächlich betrachtet, das höchste Maß an Übereinstimmung wiederspiegeln.)

Indem die Grünen und nicht nur diese die Legitimität von Entscheidungen nicht mehr in demokratischen Verfahrensregeln messen, sondern an inhaltlichen Kriterien, der Übereinstimmung der Entscheidungen mit ihrem eigenen Weltbild. Sie ignorieren den rechtsstaatlichen Fortschritt und offenbaren eine Denkweise, die das politische System in Frage stellt. Würde sich das nur auf der Ebene der Meinungsäußerung niederschlagen, könnte man solche Kritik als Rhetorisches Mittel im Rahmen der politischen Auseinandersetzung betrachten. Gefährlich wird es wenn Politiker zu Aktionen aufrufen, durch die die Entscheidungen des politischen Systems ausgehebelt werden sollen. Und auch vor Gewaltandrohung gegen den Bundespräsidenten nicht zurückschrecken.

Aber das politische System ist selbstverständlich alles andere als Perfekt und kann auch zu guter Recht kritisiert werden. Erst einmal entspricht es natürlich nicht dem oben skizzierten Ideal einer wertneutralen Demokratie, sondern ist selbst im politischen Prozess entstanden und enthält wertende Elemente wie das Sozialstaatsgebot oder den Schutz der Familie als Verfassungsgebot. Aber selbst wenn solche Unvollkommenheiten nicht bestünden, wäre es alles andere als ein stabiler Ordnungsrahmen. Das Problem geht tiefer und führt dahin, dass Denkweisen, die inhaltliche Kriterien zur Beurteilung von Legitimität heranziehen, geradezu vom politischen System selbst produziert werden.

Das Kernproblem ist, dass im demokratischen System das öffentliche Interesse Priorität gegenüber den Rechten der Einzelnen besitzt. Dass führt dazu das gegen Personen Zwang ausgeübt wird, der durch die Interessen von Anderen begründet wird, die sehr viel weniger an dem in Frage stehenden Gut beteiligt sind als die Person selbst. Dieser Missstand ist systemimmanent und lässt sich nicht einfach durch eine Verfassung beseitigen, die den Rechten der Einzelnen höhere Priorität verleiht (abgesehen davon, dass eine solche Verfassung auch im politischen Prozess durchzusetzen wäre). Es entsteht die Illusion jeder habe das Recht sich in alles einzumischen und auch begrenzte Kenntnis über oder Interesse an bestimmten Fragestellungen daran nicht ändern könnten. Der Gedanke dort wo mich die Dinge kaum berühren meine Mitwirkungsrechte aufzugeben und im Gegenzug Unabhängigkeit zu erhalten verschwindet.

Da der Demokrat Entscheidungen trifft deren Konsequenzen er nicht spürt, entfällt für ihn die Notwendigkeit, seine Überzeugungen an die Realität anzupassen. Es kommt weniger darauf an ob die Überzeugungen stimmen, als dass  sie sich gut anfühlen. Moral verdrängt Kompetenz. Wenn aber der Punkt erreicht ist, an dem ich mich in die Belange andere aufgrund meiner Moralvorstellungen einmische, öffne ich mich der totalitären Vorstellung, dass der politische Prozess nicht dem Ausgleich der Interessen dient, sondern dem Durchsetzen meiner Werte.

Die einzig saubere Lösung für den Missstand ist es, die Mitwirkungsrechte jeden Einzelnen auf das zu beschränken, wofür er die größte Kompetenz besitzt: Sein eigenes Leben und sein direktes Umfeld. Ein Recht auf Gestaltung kann es nur dort geben, wo ich selbst direkt betroffen. Das allein sichert das Höchstmaß an Freiheit und politischer Stabilität. Auch wenn unser aktuelles politisches System von diesem Ideal weit entfernt ist, macht es einen qualitativen Unterschied in einem Staat zu leben, der seine Entscheidungen an formalen Kriterien ausrichtet und nicht in einem der inhaltliche Vorgaben macht.

Der Kindergarten strukturelle Gewalt

Mai 10, 2010

Nach den Morden in Athen frage ich mich immer wieder, warum Menschen, die vorgeblich für Solidarität eintreten, so enthemmt sein können, dass sie den Tod Unbeteiligter leichtfertig in Kauf nehmen. Auch diejenigen des linken Spektrums von den man erwarten kann die Morde an sich abzulehnen, scheinen sich mehr sorgen darum zu machen, dass er politische Gegner die Ereignisse instrumentalisieren könne, als das sie an einer Reflektion über sie bereit wären. (Siehe z.B. Indimedia.) Meines Erachtens spielt bei der Legitimation solcher Taten das Konstrukt strukturelle Gewalt eine entscheidende Rolle.

Linke bezeichnen etwas als strukturell, wenn es eigentlich nicht existiert, sondern erst durch intellektuelle  Taschenspielertricks konstruiert werden muss. Das meine ich nur halb so polemisch wie es klingt. Neben der strukturellen Gewalt, ist der strukturelle Antisemitismus eine nennenswerte Verwendung dieser Technik. Die Idee der strukturellen Gewalt geht auf Johan Galtung zurück, der versteht darunter die „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse  oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“ (zitiert nach Wikipedia). Eine solche Gewalt geht natürlich nicht von einzelnen Verantwortlichen aus, vielmehr seien es die gesellschaftlichen Systeme selbst aus der die strukturelle Gewalt hervorgehe. Dennoch gilt strukturelle Gewalt unter ihren Verfechtern als notwehrfähig.

Zwei Punkte halte ich für bemerkenswert. Einmal die Gefahr die von dem Konzept ausgeht, dann was es über die mentale Verfassung seiner Verfechter aussagt. Die Gefahr des Konzepts liegt auf der Hand: Es ist geeignet den Gewaltbegriff zu verwischen und echter Gewalt Vorschub zu leisten. Mehr noch das was die potentiell mögliche Bedürfnisbefriedigung ist und wie sie zu erreichen ist, ist gerade einer der zentralen Gegenstände der politischen Auseinandersetzung. Wenn man glaubt dass man bestimmen kann, was strukturelle Gewalt ist, muss man davon ausgehen, dass die eigenen Ansichten über die potentielle Bedürfnisbefriedigung mit Gewissheit richtig sind. Wer anderer Ansicht ist, vertritt nicht einfach nur eine andere Meinung, sondern trägt zur strukturellen Gewalt bei und daher ist gegen einen solchen  „Notwehr“ legitim. Gewalt wird so wieder zu Mittel des politischen Kampfes.

Um den zweiten Punkt zu erklären muss ich etwas weiter ausholen. Oberflächlich betrachtet haben die Befürworter der strukturellen Gewalt ein starkes Argument auf ihrer Seite. Das ist, dass insbesondere die dauerhafte Beeinträchtigung menschlicher Bedürfnisse zum Beispiel Diskriminierung oder latente Bedrohung einen Leidensdruck auslösen kann, der den einer tatsächlichen Gewalterfahrung übersteigt. Daraus könnte man dann ableiten, dass die Beeinträchtigung menschlicher Bedürfnisse eine ähnliche Qualität hat wie Gewalt. Die Schwäche des Arguments liegt darin, dass das Recht Gewaltverzicht einzufordern nicht aus dem Leidensdruck abgeleitet werden kann, sondern daraus das gewalttätiges Handeln nicht universalisierbar ist. Der Grund ist dass der Leidensdruck subjektiv ist und zum Teil vom Beeinträchtigten kontrolliert werden kann. Würde sich der Gewaltverzicht aus dem Leiden ableiten, könnte man durch taktisches Verhalten beliebige Forderungen  stellen. Das Konzept der strukturellen Gewalt verneint genau diesen Gedanken.

Wenn wir mit Beeinträchtigungen konfrontiert werden, ist die spontane Reaktion Wut. In der Regel unterdrücken wir dieses Gefühl, um die Situation klarer analysieren und zu einer Lösung kommen zu können. Das Konzept strukturelle Gewalt liefert für die Wut eine Rechtfertigung und verhindert so eine klare Analyse.  Die Folge ist, dass der Glaube an die strukturelle Gewalt dazu führt, auf Frustration mit Aggressivität zu reagieren. Statt nach Lösungen zu suchen, wie man Beeinträchtigungen selbst beheben kann oder mit ihnen zu leben wird versucht von Dritten ihre Beseitigung einzufordern. So verhalten sich Kinder. Das heißt natürlich nicht, dass zum Beispiel Diskriminierung kein ganz reales Problem sein kann, das außerhalb der Kontrolle der Betroffenen liegt. Aber das Konzept strukturelle Gewalt ist kein geeignetes Mittel, um gegen Diskriminierung vorzugehen, da sie Konflikte anheizt und Betroffenen ihre Handlungsperspektive nimmt.

Es ist nicht möglich den Anarchokapitalismus in drei Minuten zu erklären

November 27, 2009

Zumindest war es mir nicht möglich gestern Abend einige wichtige Ideen des Anarchokapitalismus in dieser Zeit zu vermitteln. Der Hintergrund der Geschichte ist folgender: Seit einiger Zeit versuche ich meine rhetorischen Fertigkeiten in einem Debattierclub zu verbessern. Dort treten wöchentlich verschiedene Redner gegeneinander an, die versuchen die Juroren bzw. das Publikum von ihrer Position in der jeweiligen Fragestellung zu überzeugen. Die Debatten werden durch ein bestimmtes Format strukturiert, in erster Linie heißt das, dass die Redner in zugewiesenen Rollen debattieren. In unserem Fall ist das Format die offene Parlamentarische Debatte (OPD). OPD hat die Besonderheit, dass es neben der Pro- und Contrafraktion, also den Rednern die sich vor Beginn der Debatte festgelegt haben ob sie im Sinne der Fragestellung oder ihr entgegen argumentieren, auch freie Redner gibt. Freie Redner können sich im Laufe der Debatte entscheiden welche Seite sie unterstützen und sind nicht an die Fraktionsdisziplin gebunden, können also eine Argumentation vertreten, die von der der unterstützten Fraktion abweicht, müssen sich aber in der ersten Minute ihrer Rede positionieren. Fraktionsredner haben sieben Minuten Zeit für ihre Rede, frei Redner dreieinhalb.

Thema am gestrigen Abend war „Sollen Steuern durch Spenden ersetzt werden?“ Eine Fragestellung die sich hervorragend dazu geeignet hätte, auch anarchokapitalistischen Gedankengut einfließen zu lassen. Offenbar ist mir das gestern Abend misslungen. Meine Rolle war die eines freien Redners. Dazu hatte ich mich entschieden, weil ich noch dabei bin eine Erkältung auszukurieren und ich mir nicht zumuten wollte, sieben Minuten zu reden. Die Position war insofern günstig, dass sie mir erlaubt hat die Profraktion „rechts“ zu überholen und nicht nur die Legitimität von Steuern selbst, sondern aller staatlichen Zwangsmaßnahmen anzugreifen. Leider musste ich feststellen, dass 3 Minuten 30 zu knapp sind, um zumindest einen Grundgedanken zur Delegitimation zu vermitteln.

Mein Plan war es erst auf einer prinzipiellen Ebene den Staat als abstrakte Ordnung zu dekonstruieren und dann Beispiele für negative Folgen der Verwendung von Steuergeldern zu benennen, um so die Legitimation von Steuern zu untergraben. Außerdem hatte ich vor die die negativen Folgen anderer Finanzierungsmöglichkeiten, also Monopole (allen voran das Geldmonopol), Zölle und das Übertragen von Kosten auf Private wenigstens zu erwähnen, um so zu verdeutlichen inwiefern meine Position über die der Profraktion hinausgeht.

Um in die Rede einzusteigen griff ich Bilder auf, die in der Debatte bereits gefallen sind: „Steuern sind Enteignung“ und der Antrag versucht das Verhältnis von Bürger zu Staat zu verändern und habe zu diesen Momenten die Stellung bezogen, dass ich voll hinter diesen Prinzipen stehe, mir der Antrag jedoch nicht weitgenug gehe. Das Thema Verhältnis Bürger zu Staat diente mir dazu auf einen Angriff auf die Idee der Staat sei eine Juristische Person mit eigenen Rechten überzuleiten. Diese Juristische Person sei eine Illusion und vom Prinzip her damit zu vergleichen, dass eine Gruppe von Menschen sich zusammenschließt und von einem willkürlich ausgewählten Fremden, der zum Mitglied erhoben wird, Steuern verlangt. Abzulesen sei der Illusionscharakter daran, dass die Entscheidung des Staates nicht das Ergebnis eines volonté générale ist, sondern immer auf die Entscheidung einzelner zurückzuführen ist. Die Art der Entscheidungsfindung sei mit der Universalität des Rechts unvereinbar, da wir zwei Gruppen haben, eine die Steuern zahlt und eine die über die Verwendung der Steuermittel bestimmt, die ungleich behandelt werden.

Daran anschließend habe ich als negativen Folgen dieses Verhältnisses benannt, dass Menschen dazu gezwungen werden können, Maßnahmen zu unterstützen, die ihren Interessen diamental entgegenstehen. Diesen Gedanken vertiefte ich dann an den Beispielen von Landwirtschaftssubvention und ihren negativen Auswirkungen für die Entwicklung armer Gesellschaften sowie dem Krieg in Afghanistan. Nachdem ich diesen Aspekt abgehandelt hatte, war meine Zeit auch schon vorbei. Zu den Punkten bürokratische Ineffizienz und der Schädlichkeit anderer Finanzierungsmöglichkeiten bin ich leider nicht mehr gekommen.

Die ganze Argumentation war also recht straff und ich musste darauf verzichten die Struktur meiner Argumentation anzukündigen oder einige große Namen (Rothbard, tripple-H) fallen zu lassen, um wenigstens die Hauptlinie der Argumentation in der knappen Zeit unterzubringen. Etwa nach einem Drittel der Zeit kamen zwei Zwischenfragen, einmal auf welcher Seite ich nun stehe und die zweite inwiefern ich über die Position der Profraktion hinausgehe. Diese Zwischenfragen hätten mir schon anzeigen müssen, dass etwas nicht stimmt. Sie kamen jedoch zu einen Zeitpunkt an dem ich nichts mehr an meiner Rede ändern konnte, sonder das Konzept, das ich erarbeitet hatte durchziehen musste.

Zu meiner Überraschung wurde die Rede sehr schlecht bewertet. 36 Punkte, die nächst schlechtesten Reden lagen bei 40 und 41. Wirklich gute Reden fingen bei 45 Punkten an. Der Hauptkritikpunkt war, dass meine Zuhörer nicht ausmachen konnten, wo ich mich positioniert hatte und lediglich der Sinn der zuletzt genannten Punkte erkannt wurde, also dass Menschen dazu gezwungen werden können, Maßnahmen zu unterstützen, die ihren Interessen diamental entgegenstehen. Diese Kritik war nun wiederum für mich unverständlich, weil ich eigentlich dachte, mich wiederholt und deutlich positioniert zu haben.

Woran lag es, das Rede und Kritik auf so viel gegenseitiges Unverständnis stießen? Ich vermute, dass es daran lag, dass eine Basis von Begriffen gefehlt hat, die in gleicher Weise emotional besetzt werden. Um jemanden davon überzeugen, dass eine Maßnahme sinnvoll bzw. schädlich ist, muss man zeigen, dass die Maßnahme mit emotional besetzten Begriffen übereinstimmt bzw. ihnen widerspricht. Das wohl beliebteste Beispiel für  emotional besetzte Begriffe, die auf solche Weise verwendet werden, ist Solidarität. Wenn jemand der Meinung ist Xyz sei mit einer solidarischen Gesellschaft unvereinbar, fragt keiner mehr, ob die betreffende Person für oder gegen Xyz ist.

In meiner Rede hat die Universalität des Rechts diese Funktion eingenommen. Für mich und ich hoffe für die meisten anderen Liberalen auch ist die Universalität des Rechts ein extrem positiv besetzter Begriff. Das hat sicherlich durch die intensive Beschäftigung mit rechtsphilosophischen Fragen so entwickelt. Hayek setzt in „die Verfassung der Freiheit“ die Freiheit mit der Universalität des Rechts gleich. Alle Moralbegründungen beruhen auf vergleichbaren Universalitäts- bzw. Verallgemeinerungsprinzipen, siehe der kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“(Hervorhebung von mir) Die Sklaverei wurde abgeschafft, weil sich die Überzeugung herausgearbeitet hat, dass alle Menschen die gleichen Rechte zukommen. Ohne die Universalität des Rechts bleibt nur die Willkür.

Meine Zuhörer konnten diesen Zusammenhang offenbar nicht herstellen. Es war natürlich ein Fehler von mir davon auszugehen, dass sie die ähnliche Assoziationen haben, allerdings hätte ich mir an der entsprechenden Stelle doch eine Zwischenfrage gewünscht, denn entweder war unklar was die Universalität des Rechts bedeutet oder welche Implikationen ihre Verletzung mit sich bringt. Soviel Hohlschuld fordere ich ein. Die Lehre die ich aus der Debatte gezogen habe ist, dass wenn ich mich in der Argumentation auf zentrale liberale Themen stützte, erst einmal die notwendige Vorarbeit leiste in der ich die Wichtigkeit dieser Themen herausstelle.

Für den Liberalismus bedeutet der Mangel an positiv besetzten Begriffen, auf die die eigene Argumentation gestützt werden kann, einen enormen strategischen Nachteil. Entsprechend wichtig ist es dem abzuhelfen. Mehr Rechtsphilosophie in der öffentlichen Debatte!